Sonntag, 10. November 2013

Die Behauptung Radikalität oder Über Arroganz, Arschlöcher und mich



Kennst Du das? Die Scham ist zuweilen grenzenlos. Die Frage ist doch wirklich, wie unwillig man sein muss, wie ignorant und fehlgeleitet, wenn man sich damit ab- und zufriedengibt, das eigene Ego als Nukleus einer Meinungsführerschaft etablieren und trotzdem den weltoffenen Dandydaddy oder die bewußte Frauenrechtlerin spielen zu wollen. Oder beides. Diversität, Yeah! Alles ist möglich.

Wir ficken wie selbstverständlich mit dem Feind, denn wer heute noch Contra gibt, kann morgen schon ein Förderer und Mentor sein, jemand der für Auskommen sorgt, das persönliche Begehren als Aufhänger einer politischen Haltung nicht opfert, sondern zielgerichtet einsetzt, um den ausschließlich eigenen Weg weiterzugehen. Gruppen bilden sich nur noch auf der Basis von Einzelinteressen. Deswegen gibt es keine Ernstzunehmenden mehr. Wenn zur Bundestagswahl Intellektuelle in einer großen Wochen- oder Tageszeitung en gros Wahlempfehlungen abgeben, dann wird das zu einer Farce des Nichts-Sagens; Augenblicke der Fremdscham, die einen überkommt, wenn Precht & Co. zum Aushängeschild des untergehenden Abendlandes werden. Hier werden alle Facetten von Beliebigkeit abgedeckt. In den besten Momenten ist das vielleicht autoerotisch, doch weder steht das Auto als industrieller Heilsdauerbringer zur Disposition, noch schafft man es wirklich erotisch zu sein. Dafür gibt es Amateurpornographie in Landessprache mit einem Touch Menschenverachtung, gerade so viel, dass die eigene Geilheit überlistet werden kann. Oder Fashionblogs. Aber egal. Mit sexueller Unterdrückung und Körperwahn setzt man sich eben dann auseinander, wenn nicht gerade die neueste Staffel der amerikanischen Lieblingsserie verfügbar ist, in der die eigene Lebensrealität mit Perspektiven ange- und  unterfüttert wird, die jeglichen Tatsachen vertikaler Mobilität widersprechen. Lehrer, die Meth kochen und zu Dealern mutieren, junge Frauen, die der Berufsgruppe der 'Fixer' zugerechnet werden und denen der Präsident verfallen ist, Schriftsteller, die auf sympathische Art und Weise ihr Talent verschleudern und alles vögeln was bei drei nicht auf den Bäumen ist, Rockerbanden mit Familiencharme und Anwälte, die mehr oder weniger moralisch handeln und alle erdenklichen Variationen davon, möglichst nicht deutsch produziert, damit es der eigenen Lebensrealität auch wirklich nicht zu nahe kommt und als idealisiertes Traumbild der eigenen Persönlichkeit wie ein Schmuckkästchen auf dem Nachttisch dekoriert werden kann. Denn die eigentliche Komfortzone wird dann doch nicht verlassen. Früher haben wir unter der Bettdecke mit der Taschenlampe heimlich weiter in den Fünf Freunden gelesen. Es hat sich eigentlich nichts verändert. Wir bleiben Lemminge. Die Coolness klauen wir aus Kochbüchern. Die Geschichten erzählen andere, die tatsächlich auch nur Geschichten erzählen und nicht die Welt verändern wollen. Verändern möchte man erst, wenn es weh tut und anscheinend ist das noch nicht der Fall. Der Schmerz der anderen ist dabei nur Grundlage für das eigene Haltungsportfolio.

Wir haben eine Art von Diskurs geschaffen, der unaufhaltsam die Möglichkeiten die Welt zu verändern minimiert und permanent die Legitimation des Anderen, des Gegenübers, mit der eigenen abzugleichen sucht und den dafür in Jahren mühseliger Arbeit zugelegten Parameterpanzer aufrollen lässt, um vermeintliche Tatsachen zu schaffen und sich nicht angreifbar zu machen. Denn das ist das Schlimmste, das Aushalten von Kritik, das Umgehen damit, das Verarbeiten von solcher und die sich daraus ergebende Chancen der Trivialisierung und Vernischung von existenziellen Problemen entgegenzuwirken. Nein, das ist nicht nur keine Art, das ist ist schlichtweg ein  pseudo-postmodern generierter Habitus für Menschen, die den eigenen Karriere- und Erfolgsanspruch mit Eitelkeit, Häme und nicht auf Verhandelbarkeit ausgelegten Mechanismen zu kanalisieren, zu kommunizieren und letztendlich zu verkommerzialisieren versuchen. Voll von Hass gegen sich selbst und gegen die anderen. Stets den Blick nach oben gewandt, nach vorne und da muss auch regelmäßig daran erinnert werden: "Wir sind nicht links, nicht rechts, wir sind vorne!" Genau, wir sind alle immer ganz vorne. Ein Heer der Speerspitzen im Sumpf der gegenseitigen Schuldzuweisung. Dass in dieser Gesellschaft nicht mehr Bomben hochgehen ist eines der größten Phänomene (und Probleme) unserer Zeit. Aber es ist nun mal eine Eigenschaft des eruptiven Kapitalismus, dass er sich die Götzen und Fetische des Widerstandes einverleibt, sie popkommerziell auswertet und wie eine Perle auf die Kette zieht, die man sich dann Abends anlegt, wenn die Ikonen der Wertschöpfung zum Gala-Dinner laden und spenden sammeln um einen Brunnen in Burundi zu bauen. Wie ein schwarzes Loch frisst diese Welt den Widerstand einfach auf und ikonisiert die Protagonisten zu nichtssagenden Vorbildhüllen. Dann noch ein bisschen Lob, Anerkennung und Vergütung und die Illusion des Menschen in der gelingenden Revolte ist perfekt.

Ich habe diesen Text angefangen zu schreiben, nachdem ich einen Beitrag von Edo Reents in der FAZ gelesen hatte. Dieser Beitrag, der sich mit Netzkultur, Unverständnis, Sigmar Gabriel, jungen selbstbewussten Frauen und natürlich in erster Linie mit der eigenen Weltsicht beschäftigt und eigentlich nur polemisch sein will des polemisch sein Willens, muss nicht verlinkt werden, denn er ist eine Farce der Selbstgerechtigkeit. Man fragt sich ernsthaft, wie solche Leute den Tag unbeschädigt überstehen, wenn sie sich nicht gerade zu Hause eingraben. Welchen Kampf haben sich Martenstein, Fleischhauer, Reents und auf gewisse Art und Weise auch Leute wie Augstein etc. eigentlich auf die Fahne geschrieben? Um was geht es eigentlich? Ist hier ernsthaft jemand daran interessiert die Welt zu einem Ort zu machen, der mit weniger Hass auskommt? Ich bezweifel das. Ich spreche das diesen Menschen ab. Ja, es ist nicht einfach, sich auf Themen einzulassen, die an Selbstverständnis und Prägung kratzen, aber man(n) muss sich schon auch mal in den Kontext von Zeit und Geschichte stellen und die einfachen Reflexionen annehmen, Meditationen zulassen und die Fehlerhaftigkeit des eigenen Denkens auch mal als intellektuelle Schwindsucht akzeptieren und progressiv damit umgehen. Ein dicker langer Schwanz macht noch keinen Sommer, Kinders! Falls noch nie jemand gesagt hat, dass Ihr Euch nicht mehr sicher fühlen könnt, dann mache ich das jetzt hiermit.

Auch ich sitze beim Frauenbarcamp in einer Session zu "Frauen in Serien" und werde Wochen später darauf hingewiesen, dass 'einige Anwesende von meinen Wortbeiträgen irritiert waren und komisch fanden'. Das geht dann doch an die Nieren, wenn man das grundsätzliche Gefühl hat, sich gedanklich etwas angeschlossen zu haben, das in seinem Kern mehr als berechtigt ist. Und plötzlich kommen Zweifel auf. So schnell geht Selbststigmatisierung heutzutage. Der Schuss in den blauen Himmel. Natürlich sind die Protagonistinnen des jungen und wichtigen Feminismus, der sich im Kern von Alice Schwarzer darin unterscheidet, dass er Freiheit und Frau-Sein richtigerweise auf eine Stufe stellt und nicht an andere politische Ideale knüpft, in ihren Methoden zumeist nicht besser als etablierte Seilschaften. Sie bedienen sich ähnlicher Mechanismen von Verleumdung, Anmaßung und Ignoranz und in gewisser Weise müssen auch sie damit leben, dass, kommt es hart auf hart, das Einzelinteresse regelmäßig schwerer wiegt als die Solidarität. Die Diskussion um Yasmina Banaszczuks Parteiaustritt zeigt das wieder ganz deutlich. Wenn plötzlich jemand wie die geschätzte Julia Seeliger komplett die Contenance verliert und dem Hass, dem Neid und der eigenen Ohnmacht unterliegt oder eben Edo Reents glaubt, er müsse auch noch seine unqualifizierte Haltung zum Besten geben und sich mit jemanden wie Sigmar Gabriel, der, wenigstens das ist jetzt klar, keine Größe und Klasse besitzt, zu solidarisieren. Ja, etablierte Seilschaften kennen die Prinzipien von Solidarität. Doch es gibt einen Unterschied zu all den unwichtig polemisierenden Schreibern, Marktschreiern und politischen Trittbrettfahrern und Akteuren wie Fleischhauer, Reents, Augstein, Gabriel oder Martenstein: Ich kämpfe für das Gute. Und das ist nun mal leider die Konsequenz von Selbstbewusstsein, Selbstverständnis, Haltung und Anspruch: Die Behauptung! Sie allein bildet die Grundlage für Radikalität. Und nur Radikalität wird uns am Ende retten. Und natürlich Solidarität. Vielleicht Thema für eine Session auf dem nächsten Frauenbarcamp.